Nachdem wir uns von Ed und der Great Ocean Road verabschiedet haben, treten wir den Weg nach Melbourne an. Mit der Fähre setzen wir von Queenscliff aus ans östliche Ende der Melbourner Vororte, nach Sorento, über. Das erspart uns den verkehrsreichen Highway in die Großstadt. Von hier aus folgen wir der Küste nach Norden. Beim Stopp an einem Supermarkt spricht uns ein Mann an, er will wissen, wo wir herkommen. Wir schildern ihm unsere Reiseroute und er meint, wir wären verrückt, mit dem Rad den Nullarbor zu durchqueren. Daraufhin meinen wir: das ist doch nicht verrückt, den Nullarbor zu Fuß zu durchqueren, das ist verrückt. Ein weiterer Mann, der der Unterhaltung gelauscht hat, mischt sich nun in die Konversation ein und fügt hinzu: ach, nur wer gar nichts macht, der ist verrückt. Dem ist von unserer Seite nichts hinzuzufügen.
In den folgenden Tagen haben wir die einzigartige Gelegenheit, einige beeindruckende Menschen kennenlernen zu dürfen. An diesem Tag sind es Graham und Lesly. Auch wenn sie gerade erst von einem Ausflug zurückkehren, sind sie gerne bereit, uns in ihrem Haus aufzunehmen. Sie reisen gerne, auch Deutschland haben sie bereits bereist. So weiß Graham auch genau, wonach der Deutsche frönt. Wir hören, wie er seiner Frau beim Einkaufen am Telefon die Instruktion gibt: ‚Leslie, stop at a bottle shop! We need to feed the Germans some beer.‘ ? Beide sind über 70 und top fit. Sie gehen mit einer Gruppe radeln und laufen, beide Gruppen dürfen wir begleiten. Besonders der Ausflug mit der Lauftruppe tut uns gut, es werden einmal ganz andere Muskeln gebraucht, und die sonst beanspruchten Körperteile können sich erholen.
Zu unserer Gastfamilie gehört in diesen Tagen auch Jongi – ein Hilfsarbeiter aus Taiwan. Er ist bereits ein knappes Jahr in Australien, lernt hier Land und Leute kennen, sowie die Sprache. Später will er einmal studieren. Er hilft Leslie und Graham für zwei Wochen in der Baumschule und im Garten, bevor er zur nächsten Arbeitsstelle weiter reist. So lernen wir viel über die verschiedenen Organisation, über die man arbeiten und zeitgleich reisen kann. Auch Leslie und Graham haben so mit 60+ Jahren bereits gegen Angebot ihrer Dienste Europa bereist. Beim Abendessen stellen wir gemeinsam fest, dass Taiwan (so groß wie Baden-Württemberg) genau so viele Einwohner hat wie Australien (so groß wie Europa): etwa 25 Millionen.
Sie sind so herzlich und umsorgen uns mit Nahrung für Leib und Seele, wir kommen uns im Handumdrehen wie ein Teil der Familie vor. Jeder der Besucher des Hauses, ob Helfer oder über Warmshowers, wird für die Zeit des Aufenthaltes mit Herzlichkeit versorgt. Leslie kennt noch jeden einzelnen Namen der zahlreichen Gäste. Als wir ihnen von unserem geplanten Abstecher nach Tasmanien berichten, erinnert sie sich sofort an ein tasmanisches Pärchen, welches vor einigen Jahren Gast bei ihnen war. Schnell ist die Adresse der beiden herausgesucht, ein Anruf getätigt und für uns somit ein Host auf der Insel organisiert. ? Keiner wird vergessen und sie alle werden irgendwie Teil der Familie. Leslie berichtet uns von einer früheren Gastarbeiterin aus Deutschland, zu der sie nach deren Rückkehr den Kontakt verloren hat. Trotz vieler Versuche über Telefonbuch, E-Mail und Facebook blieben ihre Versuche erfolglos. Nun befürchtet Leslie, dass es ihr nicht gut gehen und sie unglücklich sein könnte. Das geht ihr so nahe, dass ihr bei der Erzählung die Tränen in den Augen stehen. Und uns fast ebenso.
Nach so viel Herzlichkeit garniert mit Sauerkraut und Spargel, fällt uns der Abschied erneut schwer. Auch wenn wir nur 60 Kilometer nördlich fahren und die Fahrt entlang des vielbefahrenen Highways nicht berauschend ist, so zieht es uns doch weiter. Es steht die nächste Verabredung an. Douw haben wir vor nahe Kingston SE auf der Straße getroffen. Er zauberte uns eine Cola aus seinem Kofferraum und lud uns spontan zu Besuch in Melbourne ein. (Ob er wirklich mit einem Besuch gerechnet hat?) Da überlegen wir nicht und machen ernst, vier Wochen später stehen wir vor seiner Tür. So werden wir wieder einmal, als völlig Fremde von der Straße, ins Haus der Familie eingeladen. Interessant zu erfahren ist, dass die Motivation dazu wohl aus einem Film über einen Radreisenden stammt, den sie einmal gesehen haben.
Während der zwei Tage bekommen wir neben dem Einblick ins Leben einer australischen Familie auch einen Hauch davon mit, wie das Leben in Südafrika wohl sein mag. Vor sieben Jahren sind die fünf von dort hier her emigriert, da das einstige Heimatland nicht mehr sicher genug war. Als Weiße hatten sie zu der Zeit umgekehrten Rassismus zu fürchten, jeder in dem Land muss mit Überfällen rechnen. Autofahren ohne Türen abzusperren, das Smartphone auf der Straße aus der Tasche holen, Schuhe vor der Tür stehen lassen oder am Abend an der Straße entlang laufen – das alles war undenkbar geworden. Hier können sie nun sicher leben und genießen die Möglichkeiten zum Radfahren, Laufen und Schwimmen. Wir kommen uns dabei neben den beiden mehrfachen Iron-man-Teilnehmern ziemlich unsportlich vor. Englisch ist eine der Amtssprachen in Südafrika und alle sprachen es ohnehin. Afrikaans ist, wie wir lernen, gar keine ganz fremde Sprache, es entstammt der indogermanischen Sprache und ist aus dem Neuniederländischen des 17. Jahrhunderts entstanden. Nach all den Impressionen zu Sicherheit und Sprache bekocht uns Douw mit einem südafrikanisch-australischen Mahl: weiße Polenta mit Tomaten-Knoblauch-Soße Kartoffelsalat, Sandwiches, dazu gibt es ein von Till lange herbei gesehntes australisches BBQ. Zur Krönung des Abends bekommt Tills Hose noch ein paar Flicken aufgenäht und somit eine, wenn auch der Fatalität der Löcher wegen begrenzte, Lebensverlängerung.
Am nächsten Morgen begleiten uns die neuen Freunde noch radelnd bis zur Fähre. Zwischen hunderten von Carbon Cowboys, die am Samstagmorgen das gute Wetter nutzen und die Beachroad auf und ab strampeln, gelangen auch wir in Richtung Hafen. Flache, asphaltierte Straße, auf der sich sportliche schöne Menschen tummeln, gesäumt mit Palmen, das Meer daneben – so stellt man sich Miami vor, nicht? Auf den letzten Metern vor dem Hafen treffen wir David, den wir in Lorne kennengelernt haben, ebenfalls zu Rad wieder. Melbourne ist echt wie ein Dorf. ? Dann heißt es Abschied nehmen und rauf auf die Fähre, die uns und die Esel auf die 400 km südlich gelegene Insel bringen soll.
Den Start der Überfahrt verfolgen wir bei bestem Wetter auf dem hinteren Teil des Decks der Fähre und sehen die Skyline von Melbourne immer kleiner werden, bis sie schließlich zwischen Himmel und Meer in Wolken zu verschwinden scheint.
Wir vertreiben uns ein wenig Zeit an Deck, treffen dort einen Tasmanier, der uns sehr von der Radfahrt in den Westen der Insel abrät. Es sei kalt, immer Regen, wenig abwechslungsreich, zu bergig und am Ende einfach nichts zum Radeln. Das lassen wir mal sacken. Nach knapp vier Stunden sehen wir wieder Land draußen auftauchen. Das muss das Ende der Bucht sein, die Engstelle zwischen Queenscliff und Sorento, die wir vor ein paar Tagen mit einer kleinen Fähre überquert haben. Neugierig eilen wir nach draußen, um diese Stelle nun aus einem anderen Winkel zu betrachten. „Oh, das sieht aber vom Meer aus ganz anders aus“, stellen wir beeindruckt fest. So viele hohe Häuser, die haben wir auf der Radfahrt gar nicht bemerkt. „Was der Blickwinkel doch ausmacht.“ Wir blicken auf das vermeintliche Queenscliff hinüber. Dann sieht es so aus, als ob die Fähre auf das Ufer zu steuert. Sie verlangsamt ihr Tempo und hält auf einen Quay zu. „Schau an, wir haben hier einen Zwischenhalt“ meine ich. Till ist sich aber sicher, dass wir keinen Zwischenstopp haben. „Hm, vielleicht ist der Sprit alle und sie muss nochmal tanken“ Das scheint mir die einzig sinnvolle Erklärung für den ungeplanten Halt in Queenscliff zu sein. Ich beschließe, mir die Sache von der anderen Seite der Fähre einmal anzusehen. Drüben stehen viel mehr Passagiere und schauen hinunter, tatsächlich, wir haben an dem Steg angelegt. Ich murmle halblaut die Frage vor mich hin, warum wir wohl hier halten. Darauf meint eine Dame zu mir, dass jemand sehr krank geworden sei. „Ah, und die Person lassen wir hier aussteigen“ erklärt sich mir nun der Zwischenhalt. „Ja,“ bestätigt sie, „deshalb sind wir umgekehrt“. „What? This..“ ich deute auf das Queenscliffufer „this is Melbourne again??“ Die Dame bestätigt das. Es hätte wohl eine Durchsage gegeben, aber die müssen wir total überhört haben.
Zu Beginn war ich ziemlich verärgert über die Verspätung. Egoistisch dachte ich: Konnte sich die Person nicht zwei Stunden früher überlegen, dass es ihr nicht gut geht und sie vielleicht nicht auf Reisen gehen sollte? Doch beim genaueren Bedenken kommt mir, dass es doch etwas sehr ernstes gewesen sein muss, ein Schlaganfall oder Herzinfarkt, was das Umdrehen einer Fähre veranlasst. Und plötzlich fühle ich mich so schlecht für meine egoistischen Gedanken. Ich beschließe, die vier Stunden Fährfahrt anstatt als Verspätung als ‚free additional ride' zu betrachten.
Nach Überwinden meiner eigensüchtigen und selbstkritischen Phase und dem Start der Fähre mit vier Stunden Verspätung finde ich mich wieder im Hier und Jetzt und rufe Tim und Annie an. Das sind unsere Warmshowers-Hosts für diese Nacht. Wir hatten ursprünglich vor, nach Ankunft der Fähre die 30 km vor Einbruch der Nacht zu ihrem Haus zu radeln, doch Tim bestand darauf, uns von der Fähre abzuholen, damit wir in Ruhe gemeinsam zu Abend essen können. Da wir nun erst 23:00 ankommen, ist das sichtlich unmöglich und wir werden nach einem Platz zum Campen Ausschau halten, so teilen wir Tim am Telefon mit. Doch er besteht darauf, uns abzuholen, nun wäre doch gerade erst recht Grund dazu. Wow, was für ein einzigartiger erster Eindruck von den Tasmanischen Bewohnern! Kurz darauf treffen wir die Dame noch einmal, die uns von der Umkehr der Fähre berichtete. Sie bietet uns der späten Ankunft wegen spontan an, bei ihr zu übernachten, sie wohne nicht weit von der Fähre. Total fremden Leuten bietet dir das an, Touristen (auf der Fähre sind wir inkognito unterwegs und nicht mal als Radreisenden zu erkennen). Die Gastfreundschaft macht uns sprachlos.
Tim steht bereits am Fährhafen, als wir die Räder schiebend das Schiff verlassen. Irgendwie erkennt er uns unter den vielen Reisenden sofort. ? Mit seiner „Ute“ (hier mehr eine Kurzform für ‚utility vehicle' als ein Frauenname) sind wir im Nu in Ulverstone und sitzen mit ihm, Annie und Hund Sniffy zusammen vor dem wärmenden, knisternden Kamin. Damit es uns auch in dem komfortablen, großen Bett nicht zu kalt wird, hat Annie schon mal die Heizdecken auf den Matratzen vorgeheizten. So schippern wir ins Land der Träume über und in einen tiefen, festen Schlaf hinein.
Ganz nebenbei stellen wir am nächsten Morgen fest, dass an diesem Tag Annies Geburtstag ist, in den sie nun ein paar verspäteten Radlern wegen etwas holprig gestartet ist. Der feierliche Anlass ist jedoch kein Grund dafür gewesen, uns nicht zu empfangen. Sie nehmen sich statt dessen die Zeit, uns die Gegend zu zeigen. Die Führung startet mit Hühnern, Obst und Gemüse, in ihrem Garten, in dem wir zum ersten Mal einen Avocadobaum sehen. Am Baum sind drei Generationen von Früchten, die dritte kann zum Verzehr geerntet werden, erklärt uns Tim. Sniffy ist bei der Führung dabei und weiß genau, dass er nur zwischen den Beeten, niemals auf den Beeten laufen darf. Nach diesem Einblick geht es weiter durch die grüne Region, in die der Frühling gerade Einzug gehalten hat. Blumen sind überall, die Bäume stehen in prächtiger Blüte. Von einem hochgelegenen Platz aus, haben wir einen schönen Überblick in Tal, am Horizont sind die Spitzen entfernter Berge zu sehen, die nach uns zu rufen scheinen. Unsere Gastgeber führen uns daraufhin zu einem See, in dem Schnabeltiere leben: ein eierlegendes Säugetier. Neben dem Ameisenigel (sehen wir später auch noch) das einzige Kloakentier der Welt. Und tatsächlich erspäht Tim eines der seltenen Tier und wir können es bestaunen. Mit einer fabelhaften Tajine, Zitronenkuchen (Zitronen wachsen im Garten) und einem Glas Wein klingt ein weiterer unvergesslicher Tag in bester Gesellschaft aus.
Der folgende Tag führt uns bei Sonnenschein und Rückenwind zu Graham und Leslie, deren Kontakt wir von Graham und Lesly (kein Irttum, anderes Pärchen, gleiche Namen, und ebenfalls herzlich) erhalten haben. Sie planen mit uns detailliert unsere anstehende Fahrt über die Insel, die auch den Westen beinhaltet (andere hätten das vor uns auch schon mal geradelt). Sie laden zum Kaffee sogar noch einen Freund, Roger, ein, der sich in einigen Gegenden besser auskennt als sie selbst. So haben wir am Ende des Tages genaue Vorstellung von anstehenden Höhenmetern, welche Straßen nur Schotter sind, welche Schotter sind, aber die Ab- und Auffahrt durch eine Schlucht umgeht und welche Buchten sehenswert sind. Als Zugabe hat Roger noch einen guten Freund in Hobart, am Südende der Insel, bei dem er Logis für uns noch am gleichen Abend organisiert. Es ist einfach unglaublich, wie gut die Radfahrer-Gemeinschaft funktioniert!
Der Tag endet mit Schottenrock und schottischem Whisky (Wurzeln von Graham). Leslie ist sehr besorgt, denn sie hat keine Heizdecke unter unserem Laken. ? Dann geht es los! Es ist ein voller Tag Regen angesagt. Auf, ins wilde und ursprüngliche West-Tasmanien – eine Freude, die zum Preis von vielen Höhenmetern, niedrigeren Temperaturen und Schnee in den Bergen zu haben ist. Trotzdem. Unsere Vorfreude ist riesengroß.