Die Fjordlandschaft der nördlichen Küste zieht an uns vorbei, ohne dass wir ihr viel Aufmerksamkeit schenken können. Der Regen fällt in großen Tropfen von den Helmen auf die Knie, das Wasser rinnt an den Rainlegs (Regenkleidung zum über die Hose stülpen) entlang, rinnt unter die Hose und in die Schuhe. Doch die Fähre ist gebucht und wir müssen trotz des Regens weiter, zudem ist bis zum Horizont am Himmel keine Besserung in Sicht. Wir sind trotz (oder auch wegen) der schon recht in Mitleidenschaft gezogenen Ponchos ziemlich schnell durchnässt und sind uns einig, dass auch bei zeitweise noch zunehmendem Regen ein Anhalten und Unterstellen keinen Sinn macht. So radeln wir wacker, bis wir eine Bushaltestelle nahe des Hafens erreichen, die förmlich „Hierher“ ruft und uns unter dem weiten Dach eine Möglichkeit zum Unterstellen bietet.
Die nassen Kleider muss ich wechseln, sonst wird es zu kalt. Till stellt sich beim Umkleideprozedere als Sichtschutz vor mich, die Kamera oben unterm Dach bemerken wir erst später. Während wir warten, kommt eine Dame zu uns herüber und fragt, ob sie eine Minute mit uns sprechen könne. „Sicher“, meine ich und bin gespannt, was sie uns wohl verkaufen möchte. Dann beginnt sie: „Ich möchte ein Auto mieten“ in der Pause, die sich anschließt, manifestiert sich der Gedanke, dass sie gleich nach Geld fragen wird. Sie fährt fort: „Ich möchte nicht, dass die von der Vermietung wissen, dass ich einen Hund habe... um Problemen vorzubeugen. Wenn ich meinen Hund irgendwo anbinde, dann weint er. Ich habe ihn erst kürzlich aus dem Tierheim gerettet. Aber wenn er bei jemandem bleiben könnte, der ihn streichelt, dann wäre er beruhigt und es gäbe keine Probleme.“ Oh mann, was habe ich manchmal für böse Vorurteile. Ich kann mir nicht ausmalen, warum sie ausgerechnet uns ihren Hund anvertrauten will – ich trage eine blaue Männerunterhose mit Eingriff, Wollstrümpfe darüber bis zu den Waden hochgezogen, die nassen Haare kleben mir im Gesicht – doch ich willige ohne zu zögern ein, ihr zu helfen, nehme den Hund zu mir und beginne, ihn zu streicheln. Maudi ist ganz brav, bis nach etwa 20 Minuten sein Frauchen im Auto zurück ist. Es ist schön, beide wieder glücklich vereint zu sehen und Lohn genug zu wissen, dass wir geholfen haben, so lehnen wir es auch ab, etwas fürs Hundesitten von ihr zu nehmen. Als Dank gibt sie uns für unsere Reise auf der Nordinsel einen Tipp zu einer heißen Quelle in der man baden kann.
Dann beginnt die Fährfahrt. Wir haben Plätze in Pole-Position, am vorderen verglasten Ende des Schiffes, mit freier Sicht in Fahrtrichtung. Beim verregneten Blick während der Fahrt hinaus aus den Fjorden fallen uns die Augen zu und wir träumen von besserem Wetter. Als wären unsere Träume erhört wurden, fahren wir drei Stunden später in den Hafen von Wellington ein, der bei wohligen 20°C unter der Sonne steht. „Da ist er, mein Sommer, endlich!“ Wir haben ein Grinsen im Gesicht, von einem Ohr zum anderen, und rollen als erste Passagiere vom Schiff.
An den mehrspurigen Straßen mit viel Verkehr merken wir schnell, dass die Nordinsel viermal so viele Einwohner hat, wie die Südinsel und Wellington um einiges größer ist, als das beschauliche Picton. Zum Glück liegt der Hafen nordöstlich der Stadt, die wir in eben jene Richtung auf Radwegen zu verlassen suchen. Doch das ist einfacher gesagt als gemacht. Erst finden wir ihn nicht, als wir ihn finden, trennt uns eine gewaltige Bordsteinkante von ihm. Wir müssen auf dem Highway halten und die Räder hinaufwuchten. Dann führt uns der Radweg direkt neben dem geschäftigen Highway her, so dass uns der Verkehrslärm noch einiges begleitet. Der Weg ist gar nicht so leicht beizubehalten. An einer Kreuzung folgen wir der vermeintlichen Spur und finden uns plötzlich auf der entgegen gesetzten Fahrbahnseite wieder, der Verkehr braust uns ohne jegliche Trennung entgegen. Es ist ein wenig beängstigend, doch unsere indischen Verkehrserfahrungen bestärken uns zum Weiterfahren. Bis zur nächsten Abfahrt sind wir in Geisterfahrermanier unterwegs und verlassen dann endlich den Highway.
Die Abfahrt kommt uns gerade gelegen und führt uns ab von der eigentlichen Route zu einem Supermarkt, in dem wir ohnehin noch eine Flasche Wein für Graeme und Janie besorgen wollten. Die beiden waren vor nun fast zwei Jahren in Europa mit den Rädern unterwegs als sie im Zug auf meinen Vater trafen, der mit seinem Rad uns gerade verlies und von Budapest nach Dresden fuhr. Die Radler kamen ins Gespräch und Dad berichtete von unserer Reise nach Neuseeland. Spontan gaben sie ihm ihre Adresse und mein Vater hat das Schnipsel Papier 1,5 Jahre aufbewahrt, um es uns im richtigen Moment zu senden. Zu unserer Überraschung erinnerten sich die beiden nach so langer Zeit noch an die Begegnung und luden uns ein. Sie berichten uns später, dass sie schon einige Male zuvor ihre Kontaktdaten bei ähnlichen Treffen weiter gegeben haben, doch wir seien die ersten die tatsächlich vorbei kommen.
Wie zu nahezu all unseren Host müssen wir zunächst einen steilen Anstieg bewältigen, um zu ihnen zu gelangen. Doch oben angekommen können wir nachvollziehen, warum sie diesen Platz zum Leben ausgewählt haben und Janie den Berg täglich als Arbeitsweg bezwingt. Man hat einen phänomenalen Blick auf die Bucht, an der Lower Hutt liegt, und die grünen Hügel, die sie umgeben. Die Nordinsel sieht tatsächlich viel hügeliger aus, als wir sie uns vorgestellt hatten. Und auf einem davon stehen wir nun und werden von unbeschreiblich gastfreundlichen Menschen erwartet.
An zwei unvergesslichen Tagen haben wir, unser Zelt und unsere (nun frisch gewaschenen Kleider) Zeit zum Trocknen. Bei Dinner und Wein tauschen wir Geschichten aus und haben das Glück, mit den erfahrenen Radlern unsere Route entlang der Nordinsel zu planen. Ausgeschlafen und mit dem Erlebnis der Bettruhe in einem Wohnwagen verabschieden wir uns von den beiden. Unsere Fahrt durch die rolling hills der Nordinsel beginnt. Zwar gibt es hier keine hohen Berge, aber doch hohe Hügel. Einer davon steht uns mit knapp 600 Höhenmetern gleich am Vormittag im Weg. Auf dem vielbefahrenen Highway 2 ohne Seitenstreifen schlängeln wir uns hinauf. Dunkle Wolken hängen an den Gipfeln doch verziehen sich rechtzeitig, als wir den Pass erklimmen. Dann rollen wir bei angenehme 19°C auf ruhigen Nebenstraßen entlang, vorbei an Farmland mit Kühen, Schafen und einem Esel. Der Wind weht aus Nordost (Gegenwind) doch bei Sonnenschein ist alles so viel intensiver und einfacher zu genießen: der Duft und die Farben der Blüten, der Geruch nach frisch geschnittenem Holz der Log-trucks, die Kastanien, die kleine Früchte tragen, und die Weinreben mit großen Blätter. In einem kleinen Waldstück hinter einer Schule finden wir einen Platz für die Nacht. Die Schulbusse haben wir schon vor einer Weile und entgegen kommen sehen und so sind wir uns sicher, dass wir unbemerkt bleiben, als wir das Gelände überqueren und sich ein schöner Tag dem Ende neigt.
Doch schon am folgenden Morgen ist unsere Sonnenphase vorüber. An den beiden sich anschließenden Tagen nieselt es immer wieder und der Wind bläst nur noch stärker aus Nordost. Es ist Niesel, dessen dichte Tropfen in der Luft zu stehen scheinen und der überall hin kriecht. Wir müssen bei einem Stopp feststellen, dass unsere Taschen nicht nur nicht mehr wasserdicht, sondern auch nicht mehr ameisendicht sind. Ich habe Ameisen in der Küche und muss sie von der Sirupflasche abzupfen. Von der Wimbledon Taverne, vor der wir gerade gehalten haben, haben wir schon von einem entgegenkommenden Pärchen zu Tandem gehört. Ihre breite Veranda bietet uns gerade zur Frühstückszeit einen Unterschlupf und eine Trockenmöglichkeiten für Zelti. Es ist noch geschlossen, als wir all unsere nassen Sachen und unser Frühstücksequipment auspacken. Doch nach ein paar Minuten öffnet sich die Tür und die Besitzer, Mutter und Tochter im Schlafanzug, kommen heraus und setzen sich wie selbstverständlich zu uns. Ohne jegliche Irritation darüber, dass sich Fremde auf ihrer Veranda breit machen, beginnen sie zu plaudern. Die offene, humorvolle Art der beiden tut uns gut und holt uns aus dem Tief, in das wir nach so viel Regen abzudriften drohten. Dann gehen sie hinein mit der Bemerkung: „Die Tür ist offen“ und der damit verbundenen Einladung ihnen in die trockene, offiziell noch geschlossene, Gaststube folgen zu dürfen. Ein Kaffee tut das Übrige und wir sind bereit, die Fahrt in physischer und psychischer Hinsicht gestärkt fortzusetzen.
Nach diesem Treffen und den aufmunternden Worten nimmt der Regen tatsächlich etwas ab und wir erreichen am Nachmittag einen Rastplatz noch bevor der nächste Schauer hernieder geht. Wir sind viel weiter gekommen als ich mir am Morgen auszumalen gewagt hätte und auch unser Zelt und unsere Kleider haben wir trocken bekommen – auch dagegen hätte ich noch am Morgen Wetten abgeschlossen. Und nun haben wir obendrein noch einen windgeschützten, netten Platz für die Nacht gefunden! Während die Tropfen leise auf unser Zelt fallen, hören wir Weihnachtslieder und jeder hält die Hand des anderen fest in seiner. Es ist wohl der schönste 1. Advent, den ich je hatte. Auch wenn ich das bei der Fahrt durch Wind und Regen zu sehen war, so ist mir in diesem Moment doch klar: ich bin der glücklichste Mensch der Welt.
Die Fahrt über die immer währenden grünen Hügel und entgegen des zunehmenden Nordostwindes ist anstrengend, viel anstrengender als über die Berge der Südinsel. Auf und nieder, immer wieder. Till meint: „Mein Interesse an Irland ist in den vergangenen Tagen stark gesunken.“ Beim Aufstieg erinnere ich mich an die vielen Berge, die wir überquert haben, die vielen Stunden langsamer Aufwärtsfahrt in denen ich Tills Drängeln in den Ohren hatte und es gehasst habe, mit ihm zu fahren. Doch es hat mich stärker gemacht und uns durch Berge Indiens, Nepals und Laos' gebracht. Als wir endlich unsere Fahrtrichtung nach Nordwest ändern, dreht pünktlich der Wind mit uns – ebenfalls nach Nordwest. Und bläst uns hier noch stärker als zuvor entgegen. Die Auffahrt ist hart, als würde man mit angezogener Handbremse versuchen den Berg hinauf zu fahren. Als wir nach zwei Tagen Wind- und Regenkampf das am Vulkansee gelegene Taupo erreichen, sind sich unsere Beine und der regenmeldende Wetterbericht schnell einig: morgen ist Rasttag im Zelt angesagt. Und unser Magen meldet hinterher: „Heute kommt ihr mir nicht um die 2 Liter Hokey-Pokey-Eiscreme herum, die es billiger als Milch zu kaufen gibt!“ Wir widersprechen nicht ?