Nach dem Kampf gegen den Wind der letzten Tage fühlt sich die Weiterfahrt nach der Verschnaufpause in Taupo an, als hätte jemand die Bremse gelöst. Der Wind ist schwächer, er hat endlich gedreht und braust uns nicht mehr um die Ohren. Die abgeforsteten Hügel lassen wir hinter uns und mit ihnen die kühlere Höhenluft. Warme Sommerluft weht uns um die Nasen. Es wirkt so befreiend auf uns, als wir über die grüne Ebene brausen, die Hügel in der Ferne, die Sonne am Himmel. Ehe wir uns versehen, erreichen wir die vulkanisch geprägte Gegend um Rotorua. Die Hitze der Erde beschert ihr warme Flüsse, in denen man baden kann, heiße Seen und Schlammlöcher, die beeindruckend vor sich hin blubbern, Geysire, Felsspalten, aus denen weißer Schwefeldampf aufsteigt – und natürlich einen typischen Geruch nach faulen Eiern.
Staunend fahren wir von einer geothermalen Stelle zur nächsten. Die heißen Impressionen können nur mit einer ordentlichen Portion Eiscreme heruntergekühlt werden (schon wieder ?). Ein eindrucksvoller Tag geht bei John zu Ende, der uns für diese Nacht bei sich aufnimmt und uns mit einem Abendessen willkommen heißt. Er hat viele Empfehlungen zu Sehenswürdigkeiten der Umgebung für uns und lädt uns ein, eine weitere Nacht zu bleiben – wie könnten wir das ablehnen. So haben die Esel einen Tag Pause, während wir durch die Redwoods und um die Seen Rotorua und Tikitapu wandern. Zurück vom Wanderausflug Frage ich John, wozu er denn vier Kajaks besitzt. Dies gipfelt darin, dass er uns zu einer Kajakfahrt entführt. Nachdem drei Kajaks auf dem Dach des Kleinwagens vertaut sind, geht’s auf zum Lake Okareka. Wir erhalten eine Basislektion zum Vorwärts- (und Rückwärts) fahren sowie zum Lenken und schon geht’s auf zu unserer ersten Kajakstunde. Es ist ein herrliches Gefühl unter der Sonne über den See zu paddeln, eine Höhle zu durchqueren, das andere Ufer zu erreichen und am Ende auch das Ufer wieder zu finden, von dem aus wir gestartet sind. Durch diese großartige Erfahrung sind wir dem Kajaking verfallen. Für dieses wunderbare Erlebnis danken wir John mit einer Traditionsspeise aus deutscher Schulküche. (Für den ein oder anderen unserer Landsleute mag das eher nach Folter klingen, aber er versichert uns, es hätte geschmeckt. Außerdem gab’s zum Nachtisch Eis. Ausnahmsweise ?)
Wir verabschieden uns von einem weiteren tollen Gastgeber auf unserer Reise bei einer Tasse Kaffee. Hier, wie in so vielen kleinen Dingen, bewundere ich die gelassene Art, mit der John gesegnet ist. Der kaputte Griffe der Kaffeekanne mag so manchen dazu verleiten zu meinen, er brauche eine neue Kaffeekanne. Nicht so John, der meint dazu: „Ach, dir brauch ein bisschen Klebeband.“ Mit einer neuen schönen Erinnerung im Gepäck führt uns unser Weg weiter nach Norden. Ziel ist die Halbinsel Coromandel. Nachdem wir auf 600 Höhenmeter aufgestiegen sind, geht es wieder hinab zu Feldern und Wiesen, unter denen ich derzeit leide. Ich bin sehr allergisch. Zwar verpasse ich mir täglich eine Dosis guten deutschen Cortisons, aber eben nur eine geringe, da die Arznei bis zum Ende der Reise ausreichen soll.
Zum Warmwerden (im wahrsten Sinne des Wortes) mit Coromandel biegen wir auf den Hautaki Rail Trail ein. Er entführt uns in die Goldgräberzeit, von der noch die alten Minen zeugen. Nachdem wir die uns umgebenden Karangahake Schlucht durch die 'Fenster' in einem ehemaligen Eisenbahntunnel bewundert haben, setzen wir die Fahrt unter der hoch am Himmel stehenden Sonne fort. Wir sind es nach so viel Winter und Sommertagen, die sich anfühlen wie Winter, nicht mehr gewohnt, den gesamten Tag unter dem glühenden Stern zu fahren, und Till's Kreislauf versagt den Dienst. Unser Tag endet daher etwas früher als gewöhnlich auf einem Campingplatz, an dem wir ihn mit einer kalten Dusche und einem Bad im Pazifik wieder in Schwung bringen. Das Meer liegt blau zu unseren Füßen, der Sand weiß und weich unter ihnen, die grasigen Hügel bilden den Horizont und dazwischen liegt ein kleiner Pinienwald. In diesem hat das Team des Campingplatzes Warnschilder vor den 'gefährlichen Bäumen' aufgestellt, welche hinterlistig mit Zapfen auf ahnungslose Touristen werfen. Was wäre die Menschheit doch verloren ohne die vielen sicherheitsspendenden Hinweisplaketten.
Nach der Abkühlung des vergangenen Tages fühlt sich Till wieder hergestellt und wir nehmen den Besuch der ‚Cathedral cove' in Angriff. Die Schilder weisen den Weg zu einem Parkplatz aus, von dem aus ein Shuttle-bus fährt und sich ein einstündiger Fußmarsch anschließt. Von dieser Trilogie halten wir nicht viel und suchen daher den Weg über kleine Straßen in die Nähe der Küste. Die Straße wird schmaler, dann Schotter und endet an einem Gatter. Hm, sieht nach Sackgasse aus. Doch so schnell gebe ich nicht auf. Ich frage einen Mann nach dem Weg, der gerade in seinem Pickup daherkommt. Er ist der Besitzer der Länderei hinter dem Gatter und erlaubt uns, den Farmweg zu nutzen. Wir sollen uns nur in eine Liste eintragen, die im Briefkasten liegt, damit er sieht, dass wir den Weg zurück gefunden haben und nicht unterwegs verloren gegangen sind. Die Liste ist lang, wir sind nicht die ersten Besucher, die diesen alternativen Weg zum Bucht beschritten haben.
Wir holpern also über die Farm-road und freuen uns an deren Ende darüber, dass die Esel hier sicher und versteckt stehen, während wir am Strand sind. Nach einem Sprung über den Zaun des Grundstücks finden wir uns auf dem Weg hinunter zum Meer. Die natürlich entstandene Aushöhlung im Gestein der Bucht, einem Kirchenportal gleich, tut sich beeindruckend vor uns auf. Zwar sind es viel zu viele Touristen, um in besinnliche Stimmung zu geraten, aber der Majestät der Naturformation tut dies keinen Abbruch. Nur wollen wir uns gar nicht ausmalen, wie es wohl zur Hauptsaison hier sein muss, in der die Busse den Besucherstrom wie durch eine Einbahnstraße leiten.
Mit den Impressionen dieser Gesteine im Erinnerungs- und im fotografischen Kasten kehren wir zu den Rädern zurück, die brav auf uns warten. Sie tragen uns sogleich zu einer weiteren Attraktion Coromandels, dem ‚Hot water beach'. Wie wir es bereits in Japan gesehen haben, so finden sich auch hier heiße Quellen in der Nähe des Strandes. Wenn man im Sand buddelt, kommt das heiße Wasser zu Tage. Es bietet sich uns ein amüsanter Anblick. Till meint: „Ich habe noch nie so viele erwachsene Menschen mit einer Schaufel (die man für 10$ leihen kann) im Sand buddeln sehen.“
Die Buddler lassen wir hinter uns und begeben uns auf Schlafplatzsuche. Kein einfaches Unterfangen, nahe der vielbesuchten Attraktionen sind alle Zeltplätze unbezahlbar teuer und zwischen Häusern und Farmland ist an Wildcampen nicht zu denken. Wir biegen auf die 309 Road ein, eine ruhigere, zumeist unasphaltierte Straße. Hier, so meinen wir, lässt sich sicher ein einsames Plätzchen im Wald finden. Wir fahren und fahren, suchen und suchen, doch werden nicht fündig. Links und rechts der Straße Steilhang, und was als Wald auf unserer Karte verzeichnet war, entpuppt sich als undurchdringlicher neuseeländischer Bush (ich würde es eher als Dschungel bezeichnen, mit Bodengewächsen so dicht wie Brombeerbüsche). Dann geht es links zu Evans Park ab. Ein Rastplatz, auf dem es, wie in fast allen Fällen, trotz der vorhandenen Toiletten nur Fahrzeugen mit Campingtoilette gestattet ist, die Nacht zu zubringen. Es ist bereits spät und unsere Beine sind so müde, daher entschließen wir uns trotz der angedrohten 200$-Strafen, falls uns jemand erwischt, zu bleiben. Es ist ruhig und mit dem dunklen Licht, in das die Wolken den umgebenden Bush tauchen, ein wenig mystisch. Wir baden im Fluss, bevor uns die Sandfliegen ins Zelt scheuchen.
Ein heranfahrendes Auto lässt uns am Morgen hoch schrecken. In Windeseile packen wir unsere Sachen zusammen und bauen unser Zelt ab. Wohl schneller als jemals zuvor. Das Auto, und ein vermeintlicher Patrouilleur sind nirgends zu sehen, dennoch sehen wir zu, dass wir schleunigst auf die Straße kommen. Sie führt uns zu Wally und Sue im Städtchen Coromandel, bei denen wir einen Tag verweilen. Die beiden berichten uns von Sabine, die auf dem Wochenmarkt Brot nach deutschem Rezept verkauft. Zwischen den sieben Ständen des Market finden wir Sabine und gönnen uns eines der viel zu teuren Brote. Es ist dunkel und es ist schwer, und das Beste ist: es schmeckt nach Heimat. Wir zelebrieren es mit jedem Bissen und teilen uns das kleine Laib auf drei Tage auf. Dazwischen gibt’s pappigen Knautsche-toast zum satt werden.
Auf dem Marktplatz treffen wir an diesen Tagen viele Radreisende. So viele wie seit Zentralasien nicht mehr. Die meisten davon, natürlich, sind aus Deutschland. Nach diesem sprachlichen Abstecher in die Heimat radeln wir mit Rückenwind gen Süden und somit dem Ende der Umrundung der Halbinsel entgegen. In Thames holt uns Sue ein, die einige Stunden nach uns mit dem Auto gestartet ist und in Richtung Auckland unterwegs ist. Sie staunt nicht schlecht, als sie uns neben der nahezu geleerten 2-Liter-Eispackung sitzend findet (es ist schon wieder passiert). „Habt ihr das alles gegessen?“ fragt sie ungläubig; mehrmals, um sich zu vergewissern. Die Löffel in unseren Händen und das Grinsen auf unseren Gesichtern lassen sie dann wohl doch glauben, was der Radlerhunger alles möglich machen kann.
Zum Glück hat sie die Reste des Rhabarber-Ingwer-Crumbles für uns dabei, damit wir auch ja nicht hungern. ? Mit Nachtisch breiten wir uns auf dem Campingplatz im Kauaeranga Tal auf die Besteigung des Pinnacles am nächsten Tag vor. 750 Meter wollen wir erklimmen. Doch nachdem es die gesamte Nacht ohne Unterlass geregnet hat, gleicht der Aufstieg am Morgen eher einer Wattwanderung oder einer Flussquerung als einer Bergbesteigung. Um uns herum donnert es, doch von den Füßen abgesehen kommen wir trocken rauf und runter. Nur lassen die Wolken, die am Gipfel hängen, wenig Blick ins Tal zu. So sehen wir nach sechs Stunden das Tal wieder aus der Radlerperspektive. Nach einer Wäsche im Fluss machen wir uns zu einer 40-Kilometer entfernten Stelle für kostenfreies Campen auf – jedoch nicht, ohne auf dem Weg erneut bei Pak'nSave zu halten und eine weitere Sorte der Großpackungen Eiscreme zu probieren (was soll ich sagen).
Wir sind froh, als wir den Rastplatz trocken erreichen. Ein Schauer ist über uns hinweg gezogen, als wir die Gummibärchen-Eiscreme schlemmten. Und der nächste kommt bereits bedrohlich auf uns zu. Doch unser Zelt steht und Zähne sind geputzt, noch bevor die schwarzen Wolken über uns sind. Als der Regen beginnt, freuen wir uns darüber, im Zelt zu sein. Dann setzt der Sturm ein. Nun freue ich mich nicht mehr so sehr darüber, im Zelt zu sein. Der starke Wind drückt das Zelt bodennah zusammen und Till hält von Innen die Zeltstangen fest, um Zelti im Kampf gegen den Wind zu unterstützen. Dann nimmt der Regen zu, stärker und immer stärker prasselt er auf unser Zelt. Man kann bald keine Tropfen mehr erkennen, nur noch Ströme an Wasser, die am Zelt herunter rinnen. In den Ecken sammelt sich Wasser, eine große Pfütze bildet sich auf Tills Seite. Und es regnet immer weiter. Die Pfütze nimmt nun den gesamten Zeltboden ein und das Wasser steigt. Wir versuchen all unsere Kleidung und die Schlafsäcke in die Mitte unserer Matratzen zu ziehen in der Hoffnung, dass diese trocken bleiben. Das Wasser läuft schon bald auf die Matratzen und kaum etwas bleibt trocken. Es regnet weiter und weiter. Wir schweigen und können nur machtlos der steigenden Flut zusehen.
Nach etwa einer Stunde ist das Gewitter über uns hinweg gezogen und wir betrachten die Lage von draußen in dem Licht der Laternen des Parkplatzes. Die Wiese ist zu einem großen Pool geworden und die Abläufe an den Seiten sind mit den Wassermassen restlos überfordert. Kopfschüttelnd stehen wir neben dem gefluteten Zelt im Pool. Ein junges israelisches Pärchen kommt zu uns herüber und bietet uns, in der unübersehlichen Lage, in der wir uns befinden, ihr Zelt an. Die selbststehende Variante kann auf dem Parkplatz stehen und sie schlafen ohnehin im Auto. Dankend nehmen wir ihr Angebot an und so verbringen wir anstelle ihrer die erste Nacht in dem brandneuen Zelt.
Am nächsten Morgen scheint die Sonne, kein Wölkchen trübt das helle Blau und der Himmel gibt sich ganz so, als könne er kein Wässerchen trüben. Das Wasser auf der Wiese ist abgelaufen und nichts erinnert an die Regeneration der Nacht. Nur das verbleibende Wasser, das wie aus unseren Taschen gießen, zeugt noch von den Fluten. Wir trocknen unsere Sachen und am Mittag ist der Originalzustand wieder hergestellt. Somit können wir wie geplant einen Ausflug zu den Gärten Hamiltons unternehmen. Die verschiedenen labyrinthartigen Anlagen im japanischen, chinesischen, indischen, italienischen Stile, im Stile des 16.-20. Jahrhunderts stellen eine gelungene Abwechslung zum allgegenwärtigen Farmland dar (hier wird vor stacheligen Pflanzen im Kakteenhaus gewarnt) Abwechslungsreich kommt auch in die Eisverkostung: heute gibt es Limette. ?
Den letzten Tag vor unserem finalen Abschnitt in Auckland verbringen wir am Strand von Kaiaua. Während der Stunden, die wir auf das weite Meer hinaus blicken, denke ich an die vergangenen 1,5 Jahre zurück. Wie weit weg uns Neuseeland erschien, als wir Deutschland verließen, und wie unvorstellbar lang eine Reise über 20 Monate. Eine endlos scheinende Zeit, von der nun nur noch ein paar Tage übrig sind. Ich denke an den Abschied von unseren Freunden und der Familie zurück, an die ersten Wochen mit meinem Vater, daran wie stolz wir waren, als wir das 'Ende' Europas erreicht hatten. Wie fremd schienen uns die Länder, die vor uns lagen und nun als Erinnerungen in unseren Köpfen gespeichert sind: die blauen Moscheen in Samarkand, die Tempel in Indien, das Hupen in Bangladesch, die 'Sabadee's in Thailand, die Büffelhautcurries in Laos, die Onsen in Japan und die uns überall begegnende Gastfreundlichkeit. Ich bin so dankbar diese Reise angetreten zu haben und eine Welt gefunden zu haben, die völlig anders ist als die, die uns die Medien glauben machen wollen. Sie ist nicht voll von Terror, Hass und Boshaftigkeit, sondern mit liebenswerten Menschen, die uns ein Lächeln auf den Straßen schenkten, die uns als Fremde in ihre Häuser eingeladen haben, die ihr Essen mit uns geteilt haben, und uns aus auch noch so ausweglosen Situationen geholfen haben.
Das alles liegt nun nicht mehr vor, sondern hinter uns. Das alles hat uns geprägt. Es hat uns geformt, ohne uns umzugestalten. Hat uns verändert? Hm, es hat uns bereichert. Ja, ich glaube, so definiere ich Reichtum.